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Das Volkshaus 1912
 

Von der proletarischen Disziplin zum schicken Hedonismus?

Das Volkshaus-Restaurant und seine Bewegungen

Elisabeth Joris

«Unser alkoholfreies Volkshaus ist einzig in seiner Art auf der ganzen Erdenrunde (…). Wir wollen es weihen als eine Hochburg im heiligen Kriege gegen den Volksfeind Alkohol.» Mit solch hehren Worten lobte der Sekundarlehrer, Journalist und Dichter Robert Seidel 1910 die Eröffnung des Volkshauses. Er war ein äusserst aktives Mitglied des Sozialistischen Abstinentenbundes, aber bei weitem nicht der einzige Sozialdemokrat, der dem Alkoholismus den Kampf angesagt hatte. Insbesondere Parteimitglieder mit eher bürgerlichem Hintergrund wie Otto Lang, SPS-Mitbegründer und Oberrichter, oder August Forel, der erste Leiter der psychiatrischen Klinik Burghölzli, engagierten sich in dieser Abstinenzbewegung. Alkoholabstinenz propagierten Ende des 19. Jahrhunderts bürgerliche Kreise im Allgemeinen und evangelische Pfarrer im Besonderen als probates Mittel zur Lösung der sogenannten «Arbeiterfrage».

«Wir waren für Fressen, Saufen und Huren …»

Die Bekämpfung des Alkoholismus war 1903 ein zentrales Traktandum der Parteitage der Sozialisten in Brüssel und Wien. In der Schweiz war der Eugeniker Forel aus Sorge um die «Volksgesundheit» in die SP eingetreten. Indem er die Brauereien als Vertreter des «Alkoholkapitalismus» bezeichnete, lud er die Debatte klassenkämpferisch auf: «Das Alkoholkapital ist doppelt verderblich, denn es beutet nicht nur den Geldbeutel und die Arbeit aus, sondern auch das Gehirn, die Vernunft und die Gesundheit des Volkes.» Forel hatte bereits im Jahr 1893 Frauen und Männer für die Idee eines alkoholfreien Volkshauses gewonnen, unter diesen Susanna Orelli-Rinderknecht. Die verwitwete Professorengattin gründete 1894 den «Frauenverein für Mässigkeit und Volkswohl», der 1904 in «Zürcher Frauenverein für alkoholfreie Wirtschaften» (ZFV) umbenannt wurde. Mitglieder waren fast ausschliesslich Frauen aus dem wohlhabenden Bürgertum Zürichs, die Arbeiterinnen und Arbeiter vor allem als Gefahr für die öffentliche Ordnung sahen. Sie taten sich denn auch ausserordentlich schwer damit, in den vom Frauenverein geführten alkoholfreien Arbeiterrestaurants das sozialdemokratische «Volksrecht» aufzulegen, wie es die Gäste wünschten. Forel als Initiant des Volkshauses erwartete von den «Damen», dass sie mit einem Bazar, und von den «Herren», dass sie mit Artikeln und Vorträgen für diese Idee weibelten. Auch die Schriftstellerin Hedwig Bleuler-Waser, Gründerin und Präsidentin des Bundes abstinenter Frauen, verschaffte dem Projekt mit Referaten immer wieder Publizität.
Die organisierten Arbeiter opponierten in ihrer Mehrheit sowohl gegen die Alkoholfreiheit als auch gegen den Frauenverein, von dem es hiess, er serviere zu kleine Portionen und kaum Fleisch. Auch der Arzt Fritz Brupbacher mokierte sich rückblickend ebenso über den Frauenverein wie über die kleinbürgerliche Askese der sozialreligiös geprägten Genossen: «Wir waren für Fressen, Saufen und Huren, und die Sozial-Religiösen wollten gar nichts wissen von den Vergnügungen des Bauches und der Zunge.» Dennoch konnten sich in der Sozialdemokratischen Partei die Befürworter der «vollständigen Alkoholfreiheit» durchsetzen; dies nicht zuletzt aufgrund der Autorität von Herman Greulich sowie des Stadtrats und Stiftungspräsidenten Friedrich Erismann. Diese wussten, dass die Alkoholabstinenz unabdingbare Voraussetzung war für die Überlassung des städtischen Baugrundes und die Beschaffung der notwendigen finanziellen Unterstützung durch Kanton, Stadt und den von Susanne Orelli-Rinderknecht rekrutierten privaten Sponsoren.
Die Parteispitze suchte die Vorbehalte der Mitglieder im «Volksrecht» argumentativ zu entkräften: Es gehe keinesfalls «um die Förderung der Bestrebungen bürgerlicher Mässigungsapostel, sondern um eine Einrichtung, die im Interesse des kämpfenden Proletariats von allen verständigen Genossen aufs wärmste zu begrüssen» sei. Schon früher hatte die Partei den Trinkzwang als negative Begleiterscheinung ihrer Versammlungen und den Alkoholismus als Feind der sozialistischen und gewerkschaftlichen Machtansprüche angeprangert: «Alle, die in der Agitation thätig sind, in den Versammlungen und auf der Strasse mitkämpfen, die haben nun doch die Erfahrung gemacht, dass (…) Wirthaus und Alkoholgenuss den Arbeiter abstumpfen und ihn gleichgültig machen (…). Hier ist die Wurzel und zugleich der beste Nährboden für jene verdammte Bedürfnislosigkeit zu suchen.» Mit dem Verweis auf Alkoholabstinenz und dem bewussten Verzicht auf eine Brauerei als Restaurantbetreiberin konnte Greulich im Kantonsparlament auch die Wirte besänftigen, die im Volkshaus eine unliebsame Konkurrenz sahen.

Auf ewig kein Alkohol

Der Frauenverein war kollektives Mitglied des «Vereins alkoholfreies Volkshaus». Susanna Orelli-Rinderknecht griff energisch und auf unterschiedlichen Ebenen in die Verhandlungen ein; sie war entscheidend an der finanziellen Absicherung des Projekts beteiligt. Das Gewicht der Abstinentenbewegung im Allgemeinen und des Frauenvereins im Besonderen schlug sich in den Statuten des Volkshauses von 1907 nieder. Nach Artikel 2 war der «Konsum oder Vertrieb alkoholartiger Getränke in den Räumen des Volkshauses (…) unter keinen Umständen gestattet», und diese Bestimmung durfte nach Artikel 7 «nicht abgeändert werden, weil eine solche Abänderung dem Zwecke und Geiste der Stiftung widersprechen würde». Damit dies für alle Zukunft nicht möglich sei, hielt Artikel 10 fest, dass eine allfällige Abänderung der Stiftungsurkunde, sich «niemals auf Art. 2 erstrecken» dürfe.
1910 eröffnete der Frauenverein das alkoholfreie Restaurant. Gegen den Helvetiaplatz prangte auf der Fassade in klaren Lettern das eindeutige Aushängeschild «Alkoholfreies Volkshaus».

Streiks und kleine Portionen

In ihrem Bericht über das Eröffungsfest lobte die «Neue Zürcher Zeitung» im Dezember 1910 die drei Säle, die sich «schmuck und freundlich» präsentierten und Gemütlichkeit versprächen: «Auf Grün und Rot ist der eine, auf Rot und Schwarz der zweite Saal gestimmt. Ein origineller Schmuck sind die grossen Heimberger Keramiken, farbenprächtige Krüge, die, auf Konsolen über die Wände hin verteilt, wirksame koloristische Akzente setzen. (…) Eine farbige Wohnlichkeit ist erreicht worden.» Unter den 300 Geladenen, die sich im Dezember 1910 im Restaurant zum Bankett versammelten, waren Vertreter der Arbeiterbewegung, nicht jedoch Arbeiterinnen und Arbeiter. Diese zählten zwar danach zu den Gästen, aber zu ihrem Stammlokal avancierten die drei Säle trotz billigem Angebot nicht. So zeigten sich bereits in den spannungsgeladenen Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg die klaren Grenzen zwischen Aussen und Innen, aber auch zwischen Vereinsmitgliedern und Personal. Dieses logierte in den vom Frauenverein gemieteten elf Zimmern im Dachgeschoss, der Verwalter mit seiner Familie in einer separaten Vierzimmerwohnung im selben Stock. Die «Damen» des Frauenvereins wohnten und lebten in geräumigen Häusern bürgerlicher Quartiere weit entfernt von einem Aussersihl, das dem Bürgertum während der zahlreichen Streiks als Feindesland erschien. Einzig am Tag des Zürcher Generalstreiks vom 12. Juli 1912, dessen Fäden im Volkshaus zusammenliefen, herrschte in der Alkoholfrage zwischen oben und unten, aussen und innen Einigkeit, bat doch die Arbeiterunion die Wirte des Quartiers dringend, ihre Wirtschaften nicht zu öffnen: «Wer heute den Arbeitern Gelegenheit zum Trinken bietet, ist ein Feind der Arbeiterschaft.»
Der Frauenverein spürte die mangelnde Verankerung in der Arbeiterschaft an der ungenügenden Auslastung des Restaurants: «Leider hat unser alkoholfreies Restaurant im Volkshaus einen sehr schlechten Jahresabschluss für 1918 gemacht», heisst es im Jahr des Landesgeneralstreiks. Der Frauenverein bedauerte auch, dass die Stadt nicht einen der Säle als Volksküche nutzte, um in den Kriegs- und Nachkriegszeiten dem grassierenden Hunger zu begegnen. Das «Volksrecht» griff seinerseits den ZFV als Betreiberin des Volkhausrestaurants frontal an: «Man schimpft nicht nur über kleine Portionen, die gar nicht im Verhältnis zum Preise stehen, sondern auch über die kleinen Brotrationen (…). Diese Zeilen würden sich erübrigen, wenn es sich nicht um ein Unternehmen handeln würde, das die ‹allgemeine Wohlfahrt› als Aushängeschild hat und das gesteckte Ziel, das Publikum von den Bierwirtschaften fernzuhalten, nicht völlig vergessen hätte. Man gewinnt den Eindruck, als sei es Aufgabe der Aufsichtsdamen, miteinander zu wetteifern, wie man am besten dem Publikum das Fell über die Ohren ziehen kann.»

Kompromisslos und defizitär

Dem Anspruch, ein Treffpunkt der arbeitenden Bevölkerung zu sein, konnte das Volkshausrestaurant auch in den folgenden Jahrzehnten nie genügen. Dafür war die Haltung des ZFV zu rigide: Kompromisslos hielt er am absoluten Alkoholverbot im gesamten Haus fest. So protestierte er 1930 in einem Schreiben an die Betriebskommission über Gepflogenheiten im neu eröffneten Theatersaal: «Nicht zum ersten Male kam es nun vor, dass bei den Verlosungen der verschiedenen Vereine Alkohol verlost wurde, der dann gleich von den Gästen getrunken wurde. Dies kam auch wieder am letzten Samstag beim Anlass des Turnvereins Industriequartier vor und es war für unsere Leitung sehr unangenehm, einschreiten zu müssen, und sie hatte dadurch viele Unannehmlichkeiten zu bestehen.» Der Frauenverein verlangte von der Volkshausverwaltung konkret, die Vereine mit einem Rundschreiben ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, dass selbst die im Saal durch ein Los gewonnenen Flaschen nicht im Haus geöffnet und getrunken werden dürften.
Mit dem «Anderen», dem ihnen «Fremden» tat sich der Frauenverein generell schwer, und dazu gehörte nicht nur die Lebenswelt der Arbeiter. So entsprach der ZFV 1949 nur mit grossem Vorbehalt der Bitte der Ärztin Betty Farbstein, ein Buffet des Ostjüdischen Frauenvereins wegen der Anforderungen an eine koschere Kost selber zu organisieren: «Es wurde uns nicht ganz leicht, diese Ausnahme zu machen, wie wir es auch Ihrer Vertreterin erklärten, weil eine Ausnahme immer Folgen haben kann und andere Vereine sich darauf berufen.» Man einigte sich auf eine Entschädigung für den ZFV von 250 Franken. Finanzprobleme, geringe Auslastung und fehlende Verankerung unter den Arbeitern waren seit Beginn Begleiterscheinungen der Volkshausrestaurants. Immer wieder galt es auszuhandeln, wer Reparaturen und Erneuerungen zu bezahlen hatte, vom «Gemüsetrogg» über die Kühlmöbel im Keller bis zu den neuen Kippkesseln in der Küche. Wie schon im Ersten Weltkrieg beklagte der ZFV auch 1942 den Rückgang der Gäste und die geringe Bereitschaft der Stadt zur Nutzung des grossen Restaurants: «Die Grösse des Saales entspricht leider unsern Bedürfnissen nicht mehr, da die Gästezahl zurückgegangen ist. Die Gäste ziehen zur Zeit kleine Räume vor, weil sie heimeliger sind. Auch wir denken immer an eine bessere Ausnützung des Saales und bedauern es sehr, dass die Stadt Zürich kein Interesse dafür hat. Als Wärmestube oder Suppenküche wäre der Saale doch sehr passend.»

Ein Facelifting zum Jubiläum

Mit der Hochkonjunktur der Fünfzigerjahre nahm der Umsatz zu, und der Jahresbericht der Volkshausstiftung von 1953 verknüpfte die Weltlage mit der eigenen Situation: «Hoffen wir, dass die Entspannung in der grossen Welt weiter anhält und der ganzen Menschheit Frieden und Arbeit erhalten bleiben. Unter diesen Voraussetzungen dürfte auch die finanzielle Lage des alkoholfreien Volkshauses in Zürich 4 weiterhin als gesichert gelten.» Das Alkoholverbot stand nicht zur Debatte, der sozialdemokratische Abstinenzler Eugen Blocher sah im Gegenteil schon in den Bierreklamen und dem neuen «Konjunkturalkoholismus» von Samstagnacht eine gesellschaftliche Gefahr.
Kein Rütteln an den Grundpfeilern also, aber ein Facelifting zum 50-Jahr-Jubiläum, zu dem das Restaurant «freundlicher und attraktiver, der Zeit entsprechend» gestaltet werden sollte – bei gleichzeitiger Wahrung des «Grundsatzes niedriger Preise». Ein Gesuch von Marie Hirzel, Präsidentin des ZFV, war bei der Stiftung und der Stadt auf Zustimmung gestossen, die Kosten der Renovation teilten die drei Institutionen untereinander auf. Im Innern wurden zwei Wände ausgebrochen, der Raum erhielt eine neue Aufteilung. Vor allem das neue Selbstbedienungsrestaurant sowie die Imbissbar markierten den amerikanisch insprierten Lifestyle. Die Erwartungen des ZFV waren hoch: «Wenn noch vielfach gemeint wird, der Frauenverein habe nur die Restaurants für einfaches Publikum, so ist das ein Irrtum. Er verfügt auch über den gepflegten Saal mit festlich gedeckten Tischen. Es gibt z. B. wohl in der ganzen Schweiz kein Haus wie das Volkshaus Helvetiaplatz – mit Vereinsanlässen und Abendunterhaltung mit Freinacht und Tanz für bis zu 1000 und mehr Personen, vollständig alkoholfrei!» Die Vereine, von denen hier geschrieben wurde, waren fast durchwegs religiöser Art, wie der internationale Kongress der jugendlichen – «alkohol- und tabakfreien» – Adventisten. Das Selbstbedienungsrestaurant zog zu Essenszeiten vorwiegend Studierende, Schüler und Schülerinnen an und sorgte für steigenden Umsatz. Ansonsten dominierten weiterhin Alleinstehende: ältere Männer und Frauen, notierte die «Zürcher Woche» im März 1961, die hier so etwas wie ein Heim gefunden hätten.
Die etwas einseitige Zusammensetzung der Kundschaft des Restaurants spiegelte sich in der Belegung der Säle in den oberen Stockwerken wider: Für das Jahr 1978 standen den 931 Reservationen durch religiöse Gemeinschaften nur 546 durch Parteien und Gewerkschaften gegenüber, nach Meinung des «Volksrechts» ein Resultat des Alkoholverbots. Statt zum erhofften Aufwärtstrend kam es für den ZFV auch in den Siebzigerjahren wiederholt zu grösseren Defiziten. Daran änderte die Umwandlung der Personalzimmer im Dachgeschoss zu Wohnungen kaum etwas.

Der Grundpfeiler kommt ins Wanken

Auf die vorsichtige Anfrage des Stadtpräsidenten Emil Landolt im Jahr 1964, ob das Alkoholverbot in den Sälen nicht aufgehoben werden könne, antwortete die Volkshaus-Stiftung noch mit striktem Nein. «Der denkende Arbeiter trinkt nicht; der trinkende Arbeiter denkt nicht», erklärte Stiftungsrat Fritz Heberlein die Ablehnung; mit dem unabänderlichen Verbot in den Statuten begründete sie Stiftungspräsident Jakob Peter. Ein Jahrzehnt später kündigte allerdings das Traktandum 5 der Mitgliederversammlung des Volkshausvereins vom 17. August 1978 das Undenkbare an: «Aenderung von Art. 7 der Stiftungsurkunde». Zumindest bei der Ehrung der Veteranen sollte es von nun an möglich sein, mit den altgedienten Gewerkschaftern anzustossen. Für eine Lockerung sprach sich eine klare Mehrheit von 16 zu 4 der anwesenden Vereinsmitglieder aus. Diesem Votum folgte der Stiftungsrat vom 18. Januar 1979 und gab beim Rechtsprofessor Hans Michael Riemer ein Gutachten in Auftrag.
Riemer argumentierte, dass nach Artikel 12 die kantonale Behörde den Zweck der Stiftung auf Antrag von Verein und Stiftungsrat abändern könne, «wenn ihr ursprünglicher Zwecke eine ganz andere Bedeutung oder Wirkung erhalten hat, sodass die Stiftung dem Willen des Stifters offenbar entfremdet worden» sei. Das Umfeld habe sich drastisch verändert, der Alkoholismus grassiere dank verbesserten gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr wie im 19. Jahrhundert als «Seuche» unter den Arbeitern, das Alkoholverbot wirke daher nur noch wie eine Bevormundung und könne vom «Destinatärkreis» des Volkshauses nicht mehr verstanden werden. Gestützt auf dieses Gutachten beantragte die Stadt Zürich bei der Direktion des Innern, die Änderung von Artikel 7 gutzuheissen: «Vertrieb und Konsum alkoholischer Getränke in den Sälen des Volkshauses ist gestattet, soweit Mass gehalten wird. Die Verwaltung ist verpflichtet, für die Einhaltung letzterer Bedingung zu sorgen.»
Auf diese beschränkte Freigabe, die das Restaurant nicht tangierte, reagierte der SFV umgehend mit der Kündigung seines Vertrages. Dabei mögen Defizite der vorangegangenen Jahre den Entscheid mitbedingt haben. Trotzdem: Ende Mai 1980 ging eine Ära zu Ende, und mit der Kündigung stand das Alkoholverbot nun im ganzen Haus zur Disposition.

«Das Volkshaus dem Volk»?

Der Opernhauskrawall vom 30. auf den 31. Mai 1980 fiel auf den Tag genau mit dem Ende der Kündigungsfrist des Frauenvereins im Volkshaus zusammen. Unter dem Einfluss der neuen Jugendbewegung entbrannten nun auch heftige Diskussionen um die Zukunft dieses Ortes. Die kulturpolitischen Ideen der SP standen dabei in scharfem Kontrast zu den Vorstellungen von Gewerkschaftsbund und Stiftungsrat. Die Partei wollte den Beizenbetrieb dem von italienischen Antifaschisten gegründeten «Cooperativo» übergeben und das ganze übrige Volkshaus samt Theatersaal zu einem Kulturzentrum machen. Linke Sozialdemokraten um Peter Münger und Sympathisierende der 80er-«Bewegig» versuchten mit dem Eintritt in den Volkshausverein diese Umorientierung zu erkämpfen, doch der Verein reagierte mit einem Aufnahmestopp. Verein und Stiftung fürchteten ebenso sehr die «Chaoten» wie den endgültigen finanziellen Absturz, nachdem das Volkshaus schon in den Jahren zuvor fast aus dem letzten Loch gepfiffen hatte. Die Chance für einen Neuanfang war vertan, als der Stiftungsrat den Umbau des Restaurants dem Lebensmitteldetaillisten LVZ (heute Coop) anvertraute und mit dem Umbau der Säle den Architekten und Stiftungsrat Fritz Weinmann beauftragte. Weil Coop schliesslich auf eine Pacht verzichtete, übergab der Stiftungsrat das Restaurant der Brauerei Hürlimann. Er setzte damit auf Sicherheit: Die Brauerei garantierte die Mietzinseinnahmen für die gesamte Vertragsdauer.
Was hätte wohl Mitbegründer Forel zu diesem Vertrag mit der mächtigen Exponentin des «Alkoholkapitals» gesagt? Protest kam nun aber nicht mehr von bürgerlicher Seite, sondern von links: «Die grösste Quartierbeiz soll vom Hürlimannkonzern stillschweigend einverleibt werden», kritisierten Leute aus der «Bewegung» in der WOZ. Dank der Vermittlung von Barbara Haering, damals Parteisekretärin der SP Stadt Zürich, zog das Komitee «S’Volkshuus em Volk» das Referendum gegen einen vom Gemeinderat bereits gesprochenen Kredit zurück. Die Mieten für die Säle sollten gleich tief bleiben, die Pachtfrage, und damit auch die Führung der Restaurants durch ein Beizenkollektiv, nochmals diskutiert werden, wurde versichert. Doch auf den 1. April 1985 ging das Lokal definitiv an die Brauerei Hürlimann. Zum Pachtvertrag gehörte das Recht zur alleinigen Bewirtung im gesamten Volkshauskomplex. Dafür war beim Umbau im Foyer des ersten Stocks eine grosszügige Buffetanlage eingerichtet worden. Die Brauerei sicherte sich mit dem Vertrag zwar die Bierlieferungen, die eigentliche Führung des Restaurants überliess sie jedoch einem Unterpächter.

Zeit der «Wohnwandsozialisten»

Als Brasserie im vorderen, Speiserestaurant im mittleren und Cafeteria im hinteren Teil, so präsentierte sich das neue Restaurant Helvetiaplatz. Gegen die Stauffacherstrasse hin entstand ein nach aussen geöffneter Imbissstand. Nicht nur der Name und der Alkoholausschank, auch die Inneneinrichtung signalisierte Veränderung: Spannteppich, tiefgehängte Holzelemente, Raumtrenner mit Topfpflanzen, schwere bunte Lampen über dunklem Mobiliar. Die öffentlichen Reaktionen darauf waren skeptisch bis vernichtend. Als «braune Sauce» beurteilte Architekturkritiker Benedikt Loderer die Inneneinrichtung im «Tages-Anzeiger», als «Fahnen der Hilflosigkeit» die Storenfragmente über den runden Bogenfenstern; im ganzen Ensemble sah er einen Ausdruck der «Wohnwandsozialisten» in den Gewerkschaften. Auf Kritik aus Bewegungskreisen erklärte der neue Wirt, Christoph Kramer, er wolle das Restaurant «bewusst unpolitisch» führen, die Preise seien erschwinglich und das Angebot auch auf das Quartier ausgerichtet. Der kommunistische «Vorwärts» monierte, «jene alten, meist etwas vereinsamten und kurligen Rentner, die früher hier zu niedrigsten Preisen längere Zeit bei einer Suppe oder ‹Schale Gold› herumsassen», hätten nun keinen Platz mehr. Auch wenn die Menüs vergleichsweise wenig kosteten, war doch klar, dass Wirt und Brauerei als Zielpublikum jetzt vermehrt Büroangestellte und Geschäftsleute anvisierten. Die Sache sollte rentieren. Die Einkünfte legten den Grundstock für den Wandel Kramers vom Wirt zum millionenschweren Gastrokönig. Dennoch war der Ertrag des «Helvetiaplatz» laut Kramer nicht so hoch, wie er sich das vorgestellt hatte. Nach zehn Jahren kündigte er, weil Stiftung und Verein sein neues Konzept nach dem Vorbild des «Marché-Restaurant» von Mövenpick nicht unterstützten und nicht schon wieder einen Umbau finanzieren wollten. Den Zuschlag als Nachfolger erhielt zunächst Eric Blass, Repräsentant einer neuen Generation von Beizern, die seit der Liberalisierung der Achtzigerjahre mit neuen Konzepten Erfolg hatten. Blass war unter anderem Gründer des «Tres Kilos» und des «Josef» gewesen. Er plante, im langgezogenen Raum eine riesige antike Holzbar einzurichten und aus dem Lokal dank gelockerten Öffnungszeiten eine «zwanglose» Begegnungsstätte zu machen, «ein neues Zentrum für die Kreise 3, 4 und 5». Die Brauerei war damit einverstanden, doch die Volkshausstiftung legte sich quer und drohte, den Pachtvertrag nicht zu verlängern. Sie warnte vor der Unerfahrenheit von Blass und vor einem Restaurant, das Extravagantes anbiete statt «Deftig-Schweizerisches». Sie befürchtete zudem eine öffentliche Auseinandersetzung, hatte sie sich doch erst zehn Jahre zuvor verpflichtet, beim Alkoholausschank «Mass» zu halten. Anstelle von Blass bekam nun Ingo Wurmbrand einen Vertrag. Der neue Wirt versprach Kontinuität. Zwar wurden Stühle und Teppiche ersetzt, aber das Konzept war nicht sichtlich ein anderes, selbst wenn sich die Imbissecke neu nach innen zum «Erlebnis-Corner» öffnete.

Das Mädchen auf dem Tisch

Rund ein Dutzend Jahre später sollte möglich werden, was für die Stiftung Mitte der Neunzigerjahre noch undenkbar gewesen war. Neue Mitglieder der Betriebskommission hatten sich mit der Auffassung durchgesetzt, dass eine bauliche und gastronomische Neupositionierung unumgängliche Voraussetzung einer Erneuerung des Vertrags mit der Brauerei sei. Die inzwischen zum dänischen Carlsberg-Konzern gehörende Hürlimann schlug als Pächterin eine GmbH von vier Personen vor, die sich im Kreis 4 als Veranstalter und Bar-Betreiber bereits einen Namen gemacht hatten: Yves Spink als Partyveranstalter, Zsolt Tscheligi als Verantwortlicher für die Finanzen, Urs Mühlherr als künstlerisch inspirierter Innenausstatter und Koni Frei als fest im Quartier verankerter und über die Grenzen der Partyszene hinaus bekannter Wirt mit Wurzeln in der 68er-Bewegung.
Nach einer kurzen Umbauzeit, bei der die «braune Sauce» aus den Achtzigerjahren verschwand, wurde im Juni 2008 das Lokal unter dem neu-alten Namen «Volkshaus» eröffnet – und die Leute kamen in Scharen. Voll ist das Restaurant «Volkshaus» seither fast täglich: Ein alter Bartresen aus dem französischen Colmar, abgesägte Pferdepauschen als Ledersitze, einfache Bänke, Stühle und Tische zum Schwatzen, Trinken und Essen im vorderen, das Restaurant im Stil einer Bühneninstallation von Viebrock und Marthaler im hinteren Teil. Dort sticht ein grosses Bild mit einem rot gewandeten Mädchen in die Augen, das in trotzig entschlossener Attitüde auf einem versinkenden Tisch steht. Ob bewusste Anlehnung an die Tradition der Widerständigkeit des Helvetiaplatzes oder zufälliges Accessoire, das bleibt offen und ist für viele Gäste wahrscheinlich auch ganz unbedeutend: Das Publikum des «Volkshaus» ist heute höchst heterogen, doch mehrheitlich augenfällig modisch und mittelständisch. In ihrer grossen Mehrheit sind die neuen Gäste wohl kaum je in Berührung mit der traditionellen Arbeiterbewegung gekommen und zählen auch nicht zur jüngeren Underground-Szene. Ein Publikumsmagnet und Treffpunkt des Kreis 4 ist das Lokal allemal, und zwar wie nie zuvor in seiner hundertjährigen Geschichte und gänzlich quer zu den Vorstellungen sowohl der streng puritanischen Gründergeneration als auch der traditionellen Arbeiterbewegung. Je nach Tageszeit sitzen oder drängen sich hier verschiedene Szenen: Schachspieler und VBZ-Pensionäre, Intellektuelle und Glanz & Gloria-Models, Genossenschafterinnen und Genossenschafter, Junge und Ältere, Bohémiens und Geschäftsleute, Kreative und Biedere. Verschwunden sind die Marginalisierten, die Alten und Arbeitslosen, aber das waren diese eigentlich schon lange.
Die neuen «Volkshaus»-Betreiber scheinen mit ihrem Konzept den Zeitgeist getroffen zu haben; trendig, umwelt- und gesundheitsbewusst zugleich, mit einem sicheren Gespür bei der Auswahl des entscheidenden Personals und einer Prise Verantwortung für Aspekte sozialer Integration. Neben einem stadtbekannten Koch arbeiten hier auch Bedienungspersonal über fünfzig und Lehrlinge; das Essen ist saisonal, marktfrisch, auch das Fleisch von lokaler Herkunft und biologisch; die Preise sind nicht überteuert, aber bei weitem nicht billig. Doch mit schickem Hedonismus zum einen und Sorge um das Quartier zum anderen scheint die Sache aus wirtschaftlicher Sicht endlich wieder erfolgreich, was den Stiftungsrat in seinem Entscheid zur Neuorientierung im Nachhinein bestätigt.
So treffen sich über die Distanz von hundert Jahren in der Geschichte des Volkshauses zwei Pfarrerssöhne aus dem Aargau, deren Konzepte nicht unterschiedlicher sein könnten: der sozialdemokratische Stadtrat und Hygieniker Friedrich Erismann aus der Gründergeneration zum einen und der ehemalige Theologie- und Ökonomiestudent, Szenemann und Privatunternehmer Koni Frei aus der gegenwärtigen Crew zum andern, weit gereist der erste, im Kreis 4 verankert der letztere, mit einem Flair für zeitbedingte Gesundheitsansprüche beide.